Sonntag, 30. August 2015

ADHS an der Heimatfront

Was es alles gibt! Zum Beispiel einen Meinungsartikel in der Welt, der recht hat! Also, zur Hälfte wenigstens. Sascha Lehnartz beklagt heute in einem Text, daß Medien und Öffentlichkeit in Hinblick auf die Ukrainekrise von einem Aufmerksamkeitsdefizit befallen seinen und die sich in der Ukraine entwickelnde Flüchtlingskatastrophe übersähen. Gut, seine Zahlen stimmen dann schon nicht mehr so ganz genau, es geht nicht um 1,4 Mio. Binnenflüchtlinge und 0,6 Mio. ukrainische Flüchtlinge in Russland, sondern nach letztem Stand vom 3. August um 1,4 Mio. Binnenflüchtlinge, 0,76 Mio. Flüchtlinge in Russland, 82 000 Flüchtlinge in Weissrussland, 64 000 Flüchtlinge in Polen und etliche Tausend "Sonstige". Aber gut. Schließlich kommt Herr Lehnartz zu einem erwartbaren Fazit: der Westen müsse den Kampf der Ukraine um ihre Freiheit unterstützen.

Aber das mit dem Aufmerksamkeitsdefizit, das stimmt! So erklärt sich zumindest, daß Medien und Öffentlichkeit in Deutschland einen schon mehrere Monate alten und sehr interessanten Text offenbar gar nicht wahrgenommen haben. Man sollte ihm aber etwas Aufmerksamkeit widmen. Es geht um eine zweiteilige Analyse der International Crisis Group zur Lage in der Ukraine. Die International Crisis Group ist eine Denkfabrik, und zwar eine ziemlich hochrangig aufgestellte, die des Kapitalverbrechens unserer Tage, der Putinversteherei, gänzlich unverdächtig ist. Schon ein kurzer Blick in das Who-is-who zeigt, das Personal dieser Institution ist durchzogen von ehemaligen NATO-Generälen, Bankern und ex-EU-Politikern. Die Crisis Group ruht also sicher auf dem Fundament unserer "Westlichen Werte" und lässt keinen Zweifel daran, wer die Guten sind (wir!) und der die Bösen (der Iwan!). Trotzdem lohnt sich im Allgemeinen die Lektüre ihrer Analysen. Denn anders als so manch anderer Denker analysieren sie nicht, um die eigene Überzeugung zu rechtfertigen, sondern um einen nüchternen Überblick über die Lage zu gewinnen. Und der Überblick auf die Ukraine führt sie zu unerwarteten Erkenntnissen, die, pointiert formuliert, auf den Satz hinauslaufen:
Der Westen in Form der Regierung in Kiew und ihrer Unterstützer in EU und NATO haben den Konflikt um die Ukraine bereits verloren.
Und daraus zieht die Analysten der International Crisis Group auch die nahe liegende Schlussfolgerung:
Um weitere Zerstörung und Opfer zu vermeiden und die Gefahr einer überregionalen Eskalation des Krieges zu bannen, muß der Westen sich zurückziehen unter Minimalbedingungen, die es ihm erlauben, das Gesicht möglichst zu wahren.
Ganz so klar wird das in den Berichten natürlich nicht auf den Punkt gebracht. Ich versuche mal, die entscheidenden Stellen aus den beiden Analysen dezent kommentiert darzustellen. Das sollte aber niemanden davon abhalten, selbst die Originaltexte, Statement on the Ukraine Crisis and European Stability und The Ukraine Crisis: Risks of Renewed Military Conflict after Minsk II vom 1. April 2015, zu lesen. Also los:

Ein militärischer Sieg über die Aufständischen aus den Volksrepubliken Donetzk und Lugansk sei nicht mehr möglich. Diese Einschätzung beruht auf der Einsicht, daß sich die ukrainische Armee seit Beginn der Kämpfe als sehr wenig schlagkräftig erwiesen hat. Den Grund dafür sieht die ICG ausschließlich in der Führungsebene der Armee, die inkompetent, korrupt und im allgemeinen kriegsunwillig sei. Es seien vom ukrainischen Präsidenten keinerlei Maßnahmen getroffen worden, um diesem Problem beizukommen, und so hätte es seit über einem Jahr keine Verbesserung der Lage in der ukrainischen Armee gegeben. Die Bürgerwehren in der Ostukraine hingegen hätten sich, durch Unterstützung Russlands, seit Beginn der Kämpfe ganz erheblich professionalisiert und besser organisiert und seien im Begriff, sich zu einer funktionierenden regulären Armee zu entwickeln. Wenn also bisher keine militärischen Erfolge gegen die Volksrepubliken möglich waren, so sei auch in absehbarer Zukunft nicht mehr damit zu rechnen.
"Ukraine’s army is enmeshed in a command crisis the country’s leaders seem unwilling to admit or address. For the separatist rebels, the command and control Moscow provides could give them the advantage in any new fighting."
Auch eine weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die NATO würde keine Aussichten auf Erfolg mit sich bringen. In der gegenwärtigen Lage könnte eine bessere Bewaffnung der ukrainischen Armee von Russland durch eine bessere Bewaffnung der Bürgerwehren in der Ostukraine gekontert werden. Die Kampfhandlungen würden sich intensivieren ohne daß die ukrainische Armee einen kriegsentscheidenden Vorteil gewinnen würde.
"It is not probable that military aid would shift the balance of force meaningfully, except in limited tactical situations, given the weakness of the Ukrainian army and the resources upon which Russia can draw."
Zuletzt stünden Russland zudem mehr militärischen Optionen offen als dem Westen. Und tatsächlich könnte Russland ja tun wovor die Regierung in Kiew immer warnt und in die Ukraine einmarschieren. Und sofern NATO-Länder Russland nicht den Krieg erklären wollen, könnten sie militärisch nichts dagegen tun.
"For the short term, though, Russia holds a strong hand. Its capacity to absorb suffering, both economic and in terms of casualties, may be unclear, but its readiness to escalate militarily in Ukraine – where multiple Russian interests are engaged -- to a level beyond that to which any prudent Western government should go is not."
In einer solchen Lage, in der man keine Aussicht auf einen militärischen Sieg hat, sei es angezeigt, auf ein sofortiges Ende der Kämpfe hinzuarbeiten, selbst wenn der Westen dadurch eine de-facto-Unabhängigkeit des Ostens der Ukraine in Kauf nehmen müsste.
"the first imperative must be to slow the pace of the crisis and halt the fighting in eastern Ukraine – not least in the interests of the conflict’s mounting number of victims – even if that includes an initial risk of extensive, possibly undefined, de facto local autonomy."
Es sei unbedingt notwendig, den Konflikt von einer militärischen auf eine politische Ebene zu bringen. Auch die Idee einer zukünftigen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine müsse dazu aufgegeben werden.
"On Ukraine’s geostrategic position, NATO could state explicitly that Ukraine would not become a member"
In Verhandlungen über die Zukunft der Ukraine könne dann alles angefallene Material, Sanktionen, der Status der Krim, etc., in die Verhandlungsmasse eingehen.
Auch was einen Wirtschaftskrieg mit Russland angeht, so gibt die Analyse der ICG eine Absage. Russland sei wirtschaftlich zu groß und zu intensiv mit westlichen Ländern verbunden, als daß harte wirtschaftliche Sanktionen in ihren Auswirkungen kontrollierbar bleiben würden.
"Sanctions that punish the Russian people would likely reinforce nationalist sentiment and be counter-productive. If additional more severe, even radical measures have to be considered, the risks that such regimes entail should not be ignored: the most serious possible economic and financial sanctions could dangerously weaken the structures of the Russian state and lead to the implosion of the Russian economy, with unpredictable consequences (including for the European banking system). Russia, unlike less powerful states under comprehensive sanctions regimes, has the means to retaliate in a calibrated and dangerous way."
Vielleicht ist also die immer wieder unversöhnlich diskutierte Frage, wie gut wir Guten tatsächlich sind und wie böse der Russe doch ist, wenn er dem freiheitsliebenden ukrainischen Volk mit Waffengewalt seinen sehnlichen Wunsch nach einer Mitgliedschaft in einem friedlichen westlichen Militärbündnis verweigert, inzwischen irrelevant gegen die Frage, was sich denn nüchtern betrachtet aus der aktuellen Situation noch heraus holen läßt. Wenn das nicht mehr viel ist, dann bleibt nur der berühmte geordnete Rückzug aus einer hoffnungslosen Lage. Von Politikern ist solch eine Einsicht nicht unbedingt zu erwarten. Was ein echter Machtpolitiker ist, so läßt dieser lieber auch eine Million Menschen in den sinnlosen Untergang gehen als zuzugeben, daß er falsch lag. Druck müsste von der Öffentlichkeit kommen. Doch die "Qualitätsmedien" haben sich von Anfang an ihrer nobelsten Aufgabe, unsere eigene Politik kritisch zu hinterfragen, konsequent verweigert. Stattdessen rufen sie weiter zur Unterstützung des Kampfes der Ukraine gegen Russland auf wie heute in der Welt. Oder sie verklären den blutigen Krieg zu einem Prozess des "erwachsen Werdens" wie vor ein paar Tagen. Die Medien scheinen sich entschlossen zu haben, bis zum Ende den propagandistischen Takt zu Trommeln für den Marsch in die Katastrophe...

1 Kommentar:

  1. ...wie sagte bereits Clausewitz....nichts ist schwieriger, als der Rückzug aus einer aussichtslosen Position.....oder so ähnlich...lach

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