Montag, 11. Januar 2010

Sag mir schlimme Dinge...!

Was ist eigentlich Qualität, und wie kann man sie erfassen? Offenbar ist Qualität eine eindimensionale, gequantelte Größe, die man ohne weiteres auf eine Anzahl von Sternchen, Punkten, oder was auch immer reduzieren kann. Denn keine Bewertungsseite im Internet kommt ohne so ein Punktsystem aus. Wenn es verschiedene Kriterien für eine Bewertung gibt, kann man ja den Mittelwert der Sternchen für die einzelnen Aspekte bilden. Und dann kann man noch den Mittelwert aller Bewertungen bilden, und fertig. Gibt es hinreichend viele Kommentare, verstehe ich ja noch die Mittelwertbildung, sofern die Streuung der Sternchenzahlen nicht allzu groß ist. Oder vieleicht besser, die Verwendung des mittleren Wertes, um nicht zu sehr von einzelnen Ausreißern abhängig zu sein. Aber wenn beispielsweise ein Buch von manchen Lesern mit fünf Sternchen bedacht wird, und von anderen mit einem, ist es deshalb ein mittelmäßiges Buch? Offenbar ist den Machern selber die Problematik beim Bewerten von Büchern bewusst, denn man kann auch die Bewertungen bewerten: War diese Rezension für Sie hilfreich? Ja/Nein. Die Frage ist nur, hilfreich wobei? Eine Entscheidung zu treffen, oder eine gute Entscheidung zu treffen? Es wird sehr faszinierend, wenn man ein bißchen in den Buchrezensionen auf Amazon.de stöbert. Das erste Merkmal, das auffällt, ist alleine das Vorhandensein von Rezensionen. So gibt es etwa zu Platons Dialog Parmenides 0 Rezensionen, zu Dieter Bohlens Der Bohlenweg: Planieren statt Sanieren immerhin 41. Kann man da schon die Relevanz eines Werkes ablesen? Immerhin setzt sich der Parmenides kritisch mit der platonischen Ideenlehre auseinander und führt die dialektische Methode in die Philosophie ein. Im Bohlenweg geht es dagegen um - keine Ahnung, hat keine eigene Wikipedia-Seite. Glaube ich zumindest.
Noch spannender wird dann natürlich, wenn man in die verschiedenen Rezensionen hineinschaut. So sagt z.B. Gerhard Braun:
"Dieser Roman ist das gescheiteste und gleichzeitig amüsanteste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe."
Und Tim Walther sagt:
"Kurzum: es ist hohl, es ist geschwätzig, niemand sollte meinen, dass er es lesen muss."
Doch doch, es geht in beiden Kommentaren um das gleiche Buch, Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco. Das der eine geschwätzig findet, was den anderen amüsiert, kann ich problemlos nachvollziehen. Das aber der eine hohl findet, was der andere für gescheit hält, hat mich etwas mehr verwundert. Zumindest bis mir wieder eingefallen ist, dass ich einmal irgendwo ein Interview mit irgendwem gelesen habe, der die Texte von Xavier Naidoo für anspruchsvoll hielt. Man sollte also mal ein bisschen systematischer versuchen, die Ursachen der mitunter sehr verschiedenen Einschätzungen desselben Buches zu verstehen.

Da gibt es die "Für einen Apfel schmeckt die Birne furchtbar"-Rezension. Z.B. wieder beim Foucaultschen Pendel, diesmal von Tom:
"Ich habe mir das Buch gekauft, da ich mir davon eine spannende Geschichte über die Templer erhofft habe. Satz mit X...
(...) Zwei Sterne bekommt das Buch jedoch trotzdem, da 20 % des Inhalts doch recht spannend ist. Insgesamt ist es aber doch eher enttäuschend."

Oder die "Finde ich eh alles Mist"-Rezension, etwa von S. Gerhard zu dem Lehrbuch Quantenmechanik von Cohen-Tannoudji, Diu und Laloe:
"Leider kommt man während eines Physikstudiums um dieses Buch nicht herum, ich habe es gehasst, genau wie die gesamt Quantenmechanik."

Und die "Ich hab gehört, wie es ist"-Rezension, hier von Sara zum Bohlenweg:
"habe das Hörbuch verschenkt. das erste von ihn war aber wohl viel lustiger und besser. aber man kann es sich anhören"

Scheinbar verwandt, aber doch deutlich verschieden davon sind die "Sowas kann ich nicht lesen"-Rezensionen. So schreibt ein Kunde zu Die Pest von Albert Camus:
"Ich konnte es nicht über mich bringen mehr als 30 Seiten von diesem dilettantischen Mist zu lesen."
Damit tue ich mich schon etwas schwerer. Muss man eine komplette Staffel DSDS ansehen, bevor man ein Urteil darüber spricht? Oder alle Xavier Naidoo-Songs anhören? Oder eben alle Seiten eines Buches lesen, bevor man sagen kann, dass es nichts taugt? Um einen persönlichen Eindruck zu bekommen, wohl nicht. Aber es läuft ja schon darauf hinaus, dass der persönliche Eindruck gerade das Problem bei Rezensionen ist.

Dann gibt es da noch die "Hintergrund"-Rezension. Z.B. von Bernhard Erdpresser zum Foucaultschen Pendel:
"Also zwei sterne nur weil Umberto sonst ganz gute Bücher schreibt."
Oder, auch sehr schön, von Marcus zu Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez:
"Nur beiläufig kann man noch sagen, daß ein Mensch der Fidel Castro und sein grausames und menschverachtendes Regime hofiert und unterstützt, doch nicht gut sein kann!"

Dann gibt es da noch die "Experten"-Rezension, die die Analyse auf ein ganz neues Niveau bringt. So mag etwa F. Alternburg die deutsche Übersetzung eines Schachbuchs von Bobby Fischer nicht:
"Bezeichnend ist die schwache Übersetzung des Titels, so bedeutet "my 60 memorable games" eher "60 meiner großen Partien". Sicher intendierte Fischer nicht, wie im deutschen Titel naheliegend, daß er nur 60 Partien spielte, die über den Tag hinaus gingen."
Was Herr Fischer mit dem Titel "My 60 Memorable Games" intendierte, kann man ihn nun leider nicht mehr fragen. Aber man sollte anmerken, dass die beanstandete deutsche Übersetzung "Meine 60 Denkwürdigen Partien" lautet.

Und zuletzt seine noch die "philosophischen" Rezensionen erwähnt. Hier kommt der Rezensient zu tiefgründigen neuen Einsichten. So etwa Dreamcatcher nach der Lektüre des Bohlenweges:
"Ich möchte auch erfolgreich sein, und nachdem ich das Buch gelesen habe, traue ich mich auch das jetzt so offen zu sagen. Denn eigentlich ist es verpöhnt, nach Geld und Erfolg zu streben. Doch wo kämen wir hin, wenn jeder so denke?"
Wie verpönt es in dieser Gesellschaft ist, nach Geld und Erfolg zu streben, wenn selbst der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei damit liebäugelt - ich bin mir nicht sicher. Vieleicht hat Dreamcatcher nur übersehen, dass man nicht zugibt, nach Geld und Erfolg zu streben, solange man beides nicht hat. Denn sonst müsste man ja seine eigene Unfähigkeit eingestehen. Und wenn man es erreicht hat, gibt man auch nicht zu, danach gestrebt zu haben - das wirkt viel bescheidener und doch gleichzeitig souverän. Aber wo wir hinkämen, wenn niemand nach Geld und Erfolg strebte, dass kann ich mir schon düster ausmalen. Besonders, wenn man im Hinterkopf behält, was gemeinhin als alternative Ziele des Strebens gehandelt wird: Glück, Nächstenliebe, oder Weltfrieden.

Was all diesen furchtbaren Buchrezensionen gemeinsam ist, ist ihre gräßliche Subjektivität. Gut, einem jeden steht es natürlich frei, ein Buch nicht zu Ende zu lesen, weil man es nicht mag, oder etwas anderes erwartet zu haben, oder das ganze Thema uninteressant zu finden. Aber was sagt das über das Buch aus, und was über den Rezensienten? Es gibt so etwas wie überpersönliche Kriterien für Qualität. Ich selber mag manches Buch nicht, obwohl ich zugeben muss, dass es gut geschrieben ist. Und es gibt manch anderes Buch, dass mich sehr amüsiert, obgleich ich weiß, dass es im Grunde Schund ist. Also sollte man ein Buch nicht von dem ausgehend besprechen, was man gerade mag, sondern von dem Buch und seinem Kontext aus. Ansonsten wird die Bewertung eines Buches zu einer reinen Abstimmung über Geschmack. Und das kann man wohl kaum wollen?

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